Seit Menschengedenken spielen Märchen und Mythen eine große Rolle in unserem Leben. Schöpfungsgeschichten und moralisierende Erzählungen beleuchteten die Wirklichkeit und schufen Geborgenheit und Gemeinschaft. Die meisten Sagen knüpfen an reale Plätze an und in den Erzählungen spielen die regionale Natur und Kultur eine wichtige Rolle. Durch die Mythen wurde vieles Mystische des Alltags erklärt, z. B. wie Krankheiten entstanden oder wie manchmal Unfälle passierten. Die Mythen konnten auch als abschreckendes Beispiel dienen. Sie stellten deshalb eine Art Lebensregeln in vergangenen Zeiten dar. Früher war das Leben oft sehr hart und die Sagen wurden deshalb stark aufgebauscht, um die Dorfbewohner auf dem richtigen Pfad des Lebens zu führen. Dies sollte man im Gedächtnis behalten, wenn man kleineren Kindern Märchen und Mythen vorliest. Dadurch wird es auch leichter, eventuelle Fragen der Kinder zum Text zu beantworten.
Die Meernixe
Ein Fischer von der Insel Vega vor der Helgelandsküste war oft mit seinem Sohn draußen bei Hysvær zum Fischen. Eines Tages geschah es, dass die Meernixe am Haken hängen blieb. Der Haken hatte sich in ihrem Mundwinkel verfangen und der Knabe bat seinen Vater, die Meernixe vorsichtig loszumachen und sie zurück ins Meer zu lassen. Der Vater tat, worum ihn sein Sohn bat. In der Nacht träumte der Knabe davon, dass die Meernixe zu ihm kam, um ihm ein Geschenk zu machen als Dank dafür, dass er seinen Vater gebeten hatte, sie frei zu lassen. Das Geschenk, das waren zwei gute Widder, würde der Junge am nächsten Tag erhalten. Und so geschah es! Als der Knabe am nächsten Morgen erwachte, standen zwei gute Widder auf dem Hof, genauso wie die Meernixe versprochen hatte. Der Junge hatte aber Angst, dass die Schafe einem anderen gehörten und traute sich deshalb nicht, sie anzunehmen. In der nächsten Nacht träumte der Knabe wieder von der Meernixe…
Frei nach nordnorwegischer Tradition
Der Wasserneck
Wie im ganzen Norden wird auch auf Helgeland schon immer die zauberhafte Kunst, die Fiedel berauschend spielen zu können, mit den Unterirdischen verknüpft. Es konnte nämlich nicht jeder ein tüchtiger Fiedler werden und diejenigen, die es wurden, hatten bestimmt Hilfe von übernatürlichen Wesen bekommen. Der Wasserneck war so ein Wesen. Er war der Meisterfiedler selbst und wenn er die Saiten seiner Geige mit dem Bogen strich, mussten alle tanzen – ob sie es wollten oder nicht. Des Winters spielte er den Meernixen und ihren Töchtern vor und wenn der Frühling kam, dann zog er los ins Landesinnere, um in Flüssen und Bächen zu fiedeln. Da konnte man sein wunderschönes Geigenspiel hören und ab und zu auch die Witter-Elfen zu seiner Musik auf den moorigen Sümpfen tanzen sehen. Der Wasserneck brachte auch anderen die Kunst des Fiedelns bei. In der heiligen Nacht zum Beispiel gingen viele Jünglinge, die das Fiedeln lernen wollten, zur Mühle am Bach oder stellten sich an eine Wegeskreuzung und warteten bis er vorbei kam. Sie mussten dazu einen gesalzenen und getrockneten Lammbug mitbringen, der verwendet werden sollte. In Vefsn gab es viele Jünglinge, die vom Wasserneck die Kunst des Fiedelns gelernt hatten. Vor langer langer Zeit lebte dort ein Hütejunge, der hieß Anders von Forsmo…
Frei nach nordnorwegischer Tradition
Der Stalo-Riese
Der Stalo-Riese ist ein widerwärtiger Räuber, Rentierdieb und Kannibale. Niemand kann sich sicher fühlen, wenn ein Stalo-Riese in der Nähe ist. Wer ihn kennt weiß, dass nur das eine gilt: ihn zu vernichten, koste es, was es wolle! Vor sehr langer Zeit waren die Stalos unsichtbar, aber sie verrieten sich trotzdem: Sie bollerten und warfen alles nieder, was ihnen in den Weg kam, sie pfiffen und flöteten. Wenn sie wütend wurden, konnten sie große Bäume ausreißen. Du verstehst also, dass der Stalo-Riese mit dem Wind und mit dem Sturm kam. Den Samikindern war es streng verboten zu pfeifen, denn dann würde man den Stalo-Riesen heranlocken. Aber der Stalo-Riese war auch dumm und es war leicht, ihn zu überlisten. Deshalb waren die Sami darin Spezialisten, ihn zum Narren zu halten, wie in dem Märchen vom Stalo-Riesen, der einen Baumstamm heiratete. Es war einmal ein Stalo-Riese, der wohnte in einem großen Wald. Eines Tages sagte der Stalo-Riese zu seinem ältesten Sohn: „Wenn du willst, dann gehen wir zu den Sami und werben um eine ihrer Töchter, damit du dir ein Weib holen kannst“. Der Sohn hielt das für eine gute Idee und sie gingen des Weges…
Nach Kirsti Birkeland, Samische Märchen: 25 südsamische Märchen.
Die Nachtmahr
Wenn dich mal ein Albtraum gedrückt hat, mag dich vielleicht die mythische Nachtmahr geritten haben. Dieses Wesen dringt durch klitzekleine Löcher in der Hauswand ein und setzt sich auf unsere Brust, wenn wir schlafen und bringt uns schreckliche Träume. Es sind nur weibliche Sagengestalten, die sich in eine Mahr verwandeln können, ein zottiges Tier, das unsere Träume stört. Früher glaubte man, dass sich eins der Mädchen einer Mutter mit sieben Töchtern in eine Mahr verwandelte, aber sicher wissen tut es niemand. Es wird von einem Mann erzählt, der jede Nacht von der Mahr geritten wird. Er wunderte sich, wie sie ins Haus kam und eines Nachts fand er ein Loch in der Wand, das er gleich daraufhin zustopfte. Als der Mann am nächsten Morgen erwachte, kroch eine nackte Frauengestalt am Boden herum. Er kaufte ihr Kleider und nachdem sie ein ganz hübsches Frauenzimmer war, entschloss er sich, sie zu heiraten. Sie lebten viele Jahre zusammen, bis eines Abends…
Frei nach nordnorwegischer Tradition
Das Witterweib als Ehegattin
Erik ist in einer Angelegenheit auf dem Weg ins Nachbardorf. Die Sonne scheint und die Vögel zwitschern. Wie viele schmachtende Blicke haben nicht bewundernde Mädchen dem Jüngling nachgeworfen? Ja wirklich, so viele, dass er schon etwas hochmütig geworden ist. Erik nimmt nicht irgendein Mädel. Es muss ein genau ausgewähltes Mädel sein, das seine Ehegattin werden soll. Tief in seinen Märchenträumen versunken, bemerkt er nicht das Weib mit der weißen Kuh, das ein Stückchen vor ihm auf dem Pfad läuft. Das exotische Paar läuft recht langsam und erst als er ganz nahe ist, entdeckt er die zwei. Erik stutzt und bleibt stehen. Ist es nicht eine Witterkuh und ein Witterweib? Ja wirklich, muss es sein, denkt Erik und beschließt, die Gelegenheit beim Schopf zu packen, um eine Witterkuh sein Eigen nennen zu können. Das ist eine Kuh, die jeden Bottich voll melken kann. Erik greift nach seinem Hinterteil und fühlt, dass sein Messer am üblichen Platz in der Scheide hängt. Rasch zieht er das Messer und wirft es hinweg. Aber das Messer, das über die Kuh fliegen soll, fliegt stattdessen über das Weib und der Stahl blitzt, ehe das Messer zu Boden fällt. Erik steht stumm da und guckt, als das Weib sich plötzlich umdreht und ihm entgegen geht. Sie bleibt genau vor ihm stehen, schaut ihm in die Augen und sagt: „Hier hast du mich. Ich bin jetzt ganz in deiner Macht und bin willig, deine Ehefrau zu werden. Du hast ja den Stahl über mich geworfen.“ Das Weib schließt sich Erik an und er ist sprachlos…
Nach Margareta Nyberg: Wahre Märchen, Sagen und Lügengeschichten aus den Dörfern entlang der Märchenstraße innerhalb der Kommune von Örnsköldsvik.
Fußnote:
„Sagor om vittra och andra sägner utmed Sagavägen“ ‚Märchen von Wittra und andere Mythen entlang der Märchenstraße‘ ist mit Genehmigung der Autoren zusammengestellt und von dem Projekt Sagavägen – Vägen från världsarv till världsarv ‚Projekt Region Märchenstraße – die Straße von einem Weltkulturerbe zum anderen‘ herausgegeben.
Textbearbeitung: Britt Hansen, Lena Burman, Olav Skårdalsmo, Johanna Suders, Pia Gustavsen, Gunn K. Johansen.
Übersetzung aus dem Norwegischen ins Schwedische: Britt Hansen, Johanna Suders, Pia Gustavsen.
Übersetzung der Website-Texte: Gunhild Brembs ©
Fotos der Illustrationen: Merete Gustavsen Tvenning.
Bildbearbeitung: Merete Gustavsen Tvenning, Grafiska Verksta´n.
Grafische Formgebung: Inger Bodin Adamsson.
Druck: BLIKK Sentraltrykkeriet AS, Bodø, 2006